Wie wäre unser Leben ohne Gefühle – ohne jegliche Freude, Liebe, Zuneigung, Dankbarkeit, aber auch ohne Trauer, Wut, Ärger, Angst und Melancholie?
«I feel therefore I am»
Damasio
Lässt man sich kurz auf diese Vorstellung ein wird schnell deutlich, wie essentiell Gefühle für uns und unser Leben sind. Um es mit den Worten von Sutter und Greenberg (2021, S. 10) zu beschreiben, bilden Emotionen „den Kern unseres Menschseins“.
Emotionen sind ein evolutionär basiertes Informationsverarbeitungs- und Problemlösesystem, das uns hilft, Probleme, die in der Interaktion mit der Umwelt auftreten, schnell und flexibel zu lösen (Damasio, 1995, Frijda, 1986, LeDoux, 1995, zitiert nach Auszra, Herrmann & Greenberg, 2017, S. 23). Sie entspringen der automatischen Bewertung eingehender Sinnesreize vor dem Hintergrund unserer Bedürfnisse, Wünsche und Ziele in einer Situation (Frijda, 1986, zitiert nach Auszra, Herrmann & Greenberg, 2017, S. 23). Emotionen sind entsprechend überlebensnotwendig. Sie geben uns wichtige Hinweise auf unsere Bedürfnisse und Werte und helfen uns dadurch nicht nur zu überleben, sondern auch entsprechend unserer Vorstellung zu wachsen (Selbstverwirklichung). Emotionen werden deshalb häufig als Motor des Lebens bezeichnet. Sie spornen uns an, motivieren uns gewisse Dinge zu tun und andere zu unterlassen. Sie beeinflussen unsere Gedanken, Verhaltensweisen, Wahrnehmung sogar unsere Erinnerung und die Physiologie unseres Körpers. Jedes Gefühl geht mit einer körperlichen Empfindung, einem Handlungsimpuls/Reaktionsbereitschaft und einer persönlichen Bedeutung, die wir ihm geben, einher.
Obwohl wir umgangssprachlich häufig von „positiven“ und „negativen“ Gefühle sprechen, sind grundsätzlich alle Gefühle wichtig. Indem sie uns Informationen über unseren aktuellen Zustand liefern, weisen uns als unangenehm erlebte Gefühle auf unzureichend erfüllte Bedürfnisse hin und haben dadurch eine wichtige Funktion. So schützt Angst uns, indem sie uns zu einer „fight or flight“ Reaktion verhilft und uns grundsätzlich auf ein zugrundeliegendes Sicherheitsbedürfnis hinweist; Schamgefühle sichern uns soziale Zugehörigkeit und weisen uns auf das Bedürfnis nach Akzeptanz und Bestätigung hin etc.
Emotionen und psychische Erkrankungen
Heute wird allgemein davon ausgegangen, dass psychische Erkrankungen mit als negativ erlebten Gefühlen und einem dysfunktionalen Umgang mit diesen Gefühlen zu tun haben (Sutter & Greenberg, 2021). Bei verschiedenen psychischen Erkrankungen werden dieselben emotionalen Verarbeitungsdefizite beobachtet: Patient*innen versuchen den als unangenehm erlebten Gefühlen aus dem Weg zu gehen (Emotionsvermeidung). Sie haben Schwierigkeiten, Emotionen adäquat zu regulieren und erleben diese deshalb häufig entweder als überwältigend stark (Unterregulation) oder erleben keine bzw. nur wenig intensiv Gefühle (Überregulation). Ausserdem erleben psychisch Erkrankte insgesamt oft starke unangenehme Gefühle. Sie weisen eine mangelnde Akzeptanz diesen gegenüber auf und beurteilen Emotionen insgesamt als sehr negativ (Greenberg, 2021).
Emotionen und Sucht
Auf die Frage „warum haben Sie begonnen zu konsumieren bzw. trotz negativer Konsequenzen weiterkonsumiert,“ (Funktion des Konsums) wird häufig wie folgt geantwortet: „ich habe getrunken, um mich zu belohnen“, „ich konsumierte, um mich verbunden und nicht mehr alleine zu fühlen“, „ich habe gekifft, um abschalten zu können und entspannt zu sein“, „ich trinke, um schmerzliche Gefühle zu betäuben“ oder „um ein inneres Gefühl der Leere zu füllen“ usw.
Diese exemplarischen Antworten verdeutlichen, dass Suchtmittel häufig gezielt zur Emotionsregulation eingesetzt werden, um unangenehme Gefühle abzuschwächen, zu betäuben, zu verdrängen und/oder um angenehme Gefühle hervorzurufen. Ein solch funktionalisierter Konsum wirkt sich wiederum negativ auf den Umgang mit den eigenen Gefühlen aus. Ein adäquater Umgang mit den eigenen Gefühlen wird „verlernt“, die Emotionstoleranz sowie das Selbstwirksamkeitsgefühl sinkt („ich halte das unangenehme Gefühl nicht aus“). Ein reduziertes Selbstwirksamkeitsgefühl und eine niedrige Frustrationstoleranz wiederum führen zu einem erhöhten Rückfallrisiko (Vollmer und Domma, 2018). Dadurch entsteht ein Teufelskreis, der den Suchtmittelkonsum aufrechterhalten und den Weg in eine Abhängigkeitserkrankung ebnen kann.
„Ohne Emotionen kann man Dunkelheit nicht in Licht und Apathie nicht in Bewegung verwandeln“
Carl Gustav Jung
Entsprechend bildet die Arbeit mit Emotionen auch in der Therapie der Suchterkrankungen einen Schwerpunkt von herausragender Bedeutung. Dieser Tatsache soll im neuen Behandlungsprogramm der Klinik Südhang unter anderem mit dem Modul „Umgang mit Gefühlen“ und den dazugehörigen Therapieangeboten Rechnung getragen werden.
Die Therapie soll den Patient*innen hinsichtlich ihrer individuellen emotionalen Verarbeitungsdefizite helfen. Sie sollen darin unterstützt werden auf ihre Gefühle zu achten, (wieder) mit diesen in Kontakt zu kommen, diese auszuhalten und da sein lassen zu können, ohne von ihnen überwältigt zu werden, auch wenn es unangenehme oder schmerzhafte Gefühle sind. Ausserdem sollen Patient*innen dabei unterstützt werden, Ausdrucksarten für ihre Gefühle zu finden, um die Emotionen (gegenüber Anderen) verbalisieren bzw. zeigen zu können und dadurch wiederum ein vertieftes Verständnis für das eigene emotionale Erleben und die dem zugrundeliegenden Bedürfnis gewinnen können. Alles in allem zielen die verschiedenen Therapien darauf ab, dass Patient*innen ihre Gefühle – sowohl die angenehmen als auch die unangenehmen – und die mit ihnen einhergehenden Informationen als wichtigen Kompass für ihre Bedürfnisbefriedigung verstehen und nutzen lernen. Denn eine gute Bedürfnisbefriedigung geht mit psychischer Gesundheit einher (Grawe, 2004).
Autorin dieses Fachbeitrags ist Hannah Dietrich. Sie arbeitet als Psychotherapeutin in der Klinik Südhang und verantwortet die Entwicklung des Moduls «Umgang mit Gefühlen» im neuen Behandlungsprogramm.
Quellenverzeichnis
Auszra, L., Hermann, I. R., & Greenberg, L. S. (2017). Emotionsfokussierte Therapie.
Ein Praxismanual. Hogrefe Verlag.
Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Hogrefe.
Greenberg, L. S. (2021). Changing Emotion with Emotion. A Practitioner Guide. APA.
Sutter, M., & Greenberg, L. S. (2021). Praxis der Emotionsfokussierten Therapie. Ein
transdiagnostischer Leitfaden. Ernst Reinhardt Verlag.
Vollmer, H.C., & Domma, J. (2018). Selbstwirksamkeitserwartung, psychische
Belastung und Therapieerfahrung als Prädiktoren der Abstinenz nach
stationärer Behandlung – eine Replikationsstudie. SUCHT. Interdisciplinary
Journal of Addiction Research, 6, pp 197-205.